MAGIE DES AUGENBLICKS
oder von der hohen Kunst im Augenblick zu bleiben


Rund drei Dutzend Tasten starren mich an, unerbittlich. Sie fordern auf zu einer Meditation der besonderen Art: Schreibe dich ins Hier und Jetzt - jetzt. Die letzten Strahlen der ausgehenden Septembersonne wärmen meine sonnenhungrigen Zellen, eine erste Schweißperle bildet sich. Der Komposthaufen meiner Nachbarin verströmt seinen penetranten Duft ungefragt in meine Richtung. Warum bellt dauernd dieser Hund? Ich sitze auf einem Plastikstuhl im Garten am Rande von Frankfurt. Dieses Haus müsste dringend renoviert werden, und neue Schuhe brauche ich auch. Ich schließe die Augen und tippe blind weiter. Und wieder dieser Hund. „Du sollst nicht bellen“, vernehme ich eine zarte Mädchenstimme, und mein innerer Hausmeister stimmt ihr zu. Der Beobachter übernimmt wieder, und eine gewisse Gelassenheit überkommt mich. Ich denke an das Date mit meiner Freundin heute Abend - und bin aus der Gegenwart in die Zukunft gepurzelt.

Als ich mich wieder auf den sinnlich erfahrbaren Moment konzentriere, klingelt das Telefon. Ein interessantes Geräusch, das ich einfach mal nicht persönlich nehme und so nur dem vertrauten und trotzdem so unerhörten Klangmuster lausche. Ich versuche nun, alle Geräusche um mich herum mal nicht ins bekannte Raster von „das ist ein ...“ zu stecken, sondern nur das Geräusch an sich ohne Zuordnung und Wertung wahrzunehmen, als ob ich ein Neugeborener wäre, der sich an die irdische Geräuschkulisse erst gewöhnen muss. Pause. Gibt es auch Erhörungen oder nur Erleuchtungen?
Eine Erinnerung befällt mich, und wieder bin ich aus der Gegenwart gefallen. Wie war doch noch mal diese Gruppenübung, bei der man mit verbundenen Augen durch die Natur geführt wird? Ein künstlicher, aber sehr effektiver Gegenwartschaffer.

Zurück im Augenblick schalte ich das Sehwerk an. Satte grüne Spätsommerfarben und -formen um mich herum: gelbe lange Blumen, wie Sterne aufgrünen Stängeln, reife rotbackige Äpfel, der Himmel blau und wolkenfrei. In der Karibik tobt im selben Moment ein Hurrikan, gerade wird irgendwo ein Kind geboren, Menschen haben Orgasmen, Schmerzen, Sorgen, Ängste, Freude, und mehrere Leute sterben, während ich weiter auf dieser Tastatur herumhämmere und mir ein paar Franken verdiene, die ich in der Zukunft für etwas ausgeben kann, das ich dann ganz bewusst in einer anderen Gegenwart genießen werde. Und wo warst Du gerade, lieber Leser?


David Luczyn, Frankfurt